Der James Last von Grimma übergibt an seinen Sohn

Stadtmusikdirektor und Publikumsliebling Reiner Rahmlow (64) verabschiedet sich zum Jahresende in den Ruhestand – nicht ohne vorher ein Geheimnis zu lüften.


Grimma. Das haue ihn glatt um: „Sie kennen unser Rathausblasen noch nicht?“ Reiner Rahmlow schaut sein Gegenüber an, als komme der vom Mond. Immer am dritten Advent spielten seine Musiker aus jedem Fenster des Grimmaer Rathauses beliebte Weihnachtslieder.
Er selbst stehe dann dirigierend auf dem kleinen Podest vorm weltbekannten Rathausgiebel und sei geblendet vom Scheinwerferlicht: „Das muss so sein“, sagt der Stadtmusikdirektor: „Wenn meine Leute schon nicht hören, was ihr Nebenmann ein Fenster weiter spielt, müssen sie mich wenigstens sehen.“

Rathausblasen – ein doppelt krönender Abschluss
Wen auch immer er in diesen Tagen trifft – der Leiter des Jugendblasorchesters (JBO) lädt ein zum Rathausblasen. Beinahe hört es sich so schwärmerisch an, als hätte umsonst gelebt, wer zum krönenden Abschluss des Weihnachtsmarktes der betörenden Musik nicht lausche.
„Das ist ein echtes Highlight“, preist Rahmlow seine jungen Musiker an. Die örtliche Tradition habe sich längst herumgesprochen. Inzwischen kämen die Zuhörer auch aus Leipzig, Dresden und Berlin. Die Grimmaer sind eh auf dem Platz. Denn es wird das letzte Rathausblasen mit Reiner Rahmlow sein.
Der 64-Jährige verabschiedet sich zum Jahresende in den Ruhestand. „Ich verjünge mich nur“, winkt der Orchesterleiter augenzwinkernd ab. Recht hat er. Denn auch ab kommendem Jahr wird das JBO von Rahmlow dirigiert – von André Rahmlow, dem Sohn des scheidenden Musikbesessenen.
Als Kind hätte sich der heute 43-Jährige nicht vorstellen können, jemals seinen Vater zu beerben. „Ich erinnere mich noch an unsere Wohnung in Grimma-Süd. Die Stube war Papas Büro, und auf dem Tisch lagen all die Aktenstapel. Nur zu Weihnachten, zum Festessen, durften wir dran sitzen.“
Er habe hautnah erlebt, welchen Knochenjob sein Vater hat, erzählt André, der selbst schon dabei sei, seit er zehn ist. Warum er dennoch seine Stelle als Optiker aufgibt und die Nachfolge antritt? „Weil es kein Zurück mehr gibt. Mit Spezialunterricht hat mich Papa seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet.“ 1969 trat Rahmlow senior dem Kreisfanfarenzug bei, der aus den Fanfarenzügen Großbardau, Nerchau sowie Grimma hervorging. Geleitet wurde der Zug vom legendären Karl-Heinz „Peppi“ Friedrich, damaliger Pionierleiter an der Alfred-Frank-Oberschule. 1972 gründete Peppi das Jugendblasorchester und konnte dafür Berufsmusiker Fritz Schlager als Übungsleiter gewinnen. 1975 übernahm Schlager die Leitung. Rahmlow erlebte die Umstellung von Fanfaren auf Trompete, Tuba und Tenorhorn live mit. Fortan wurde nach Noten gespielt.

Rahmlow startete mit dem Orchester neu durch
Reiner Rahmlow trat 1973 bei den Weltfestspielen auf, machte seinen Musikschulabschluss und bekam in den Fächern Klavier sowie Trompete drei Jahre Privatunterricht bei Fritz Schlager. Nach seiner Rückkehr vom NVA-Wehrdienst 1983 kriselte es beim Jugendblasorchester. Rahmlow stieg als Übungsleiter ein und übernahm nach Fritz Schlagers Tod 1989 die Leitung. In politisch unsicheren Zeiten startete Rahmlow neu durch: Er ergänzte die Blasinstrumente mit Keyboard und Bassgitarre, E-Piano und Synthesizer, Pauken und Percussion. Ein neuer Sound war geboren.
Brasilianer, Südafrikaner und Russen verehren die Musiker von der Mulde sogar als Stars. „Wo immer wir auftraten – überall spielten wir vor ausverkauften Häusern. Kein Witz: Unsere Mädchen und Jungen schrieben reihenweise Autogramme“, erinnert sich Rahmlow.
Auslandstourneen führten das Ensemble auch nach Kanada sowie nach Japan. Die erste Fahrt ins nichtsozialistische Wirtschaftssystem (NSW), eine 24-stündige Ochsentour, ging 1991 noch mit dem Bus von Grimma ab – nach Spanien. Doch das JBO zeigte sich auch als guter Gastgeber. Das mehrfach preisgekrönte Orchester richtete bereits zehn internationale Musikantentreffen aus. Rahmlow behielt selbst bei so einem dreitägigen Gewusel stets den Überblick. Auch der Letzte fand sein Schlafplätzchen, ob in Schule, Herberge oder privat bei Vereinsmitgliedern.
Sohn André, er sei übrigens ein direkter Nachfahre Martin Luthers, fungiert seit 2012 als Tontechniker. Dessen Tochter Alena spielt Flügelhorn im JBO. Seine Frau Doreen ist Betreuerin im Orchester, genau wie es Reiner Rahmlows bessere Hälfte, Cornelia, viele Jahre war.

Nachwuchsrekrutierung gilt als Vorzeigeprojekt
Die Nachwuchsgewinnung des JBO gilt als Vorzeigeprojekt in Sachsen. Es ist einmalig, dass ein Musikverein eine Orchesterschule betreibt. Es war Reiner Rahmlow, der den ganzen Stolz mit Fritz Schlager junior, seines Zeichens Solopauker des Gewandhausorchesters, gegründet hatte. 2006 bezog das Jugendblasorchester das sanierte einstige „Russen-Casino“ am Schwanenteichpark. „Vom Seminarraum bis zum Konzertsaal – auf drei Etagen haben wir Bedingungen wie in der Hochschule“, outet sich Rahmlow als der glücklichste Mensch auf der Welt.
Und da ist noch etwas: die Instrumentalausbildung für Musikförderklassen an der Oberschule. Auch die ist in der Form, wie sie in Grimma über die Bühne geht, ohne Vergleich. Außerdem leitet Rahmlow senior noch die Bläser- und die Keyboard-AG an der Grundschule.
Auch wenn er jetzt aufhört, ganz loslassen, kann er nicht: „Ich bleibe weiter Musiklehrer und Berater des Orchesters“, verspricht Rahmlow. Der James Last von Grimma, wie ihn der parteilose Oberbürgermeister Matthias Berger nennt, tritt selbst in seinen letzten Amtstagen kein bisschen kürzer.
Von Rathaus- über Turmblasen bis hin zum Neujahrskonzert, seinem allerletzten Auftritt – er habe sprichwörtlich zu tun wie der „Leipzscher Rat“. Man solle eben aufhören, wenn es am schönsten ist, wenn erreicht ist, was man wollte, dankt Rahmlow seinen treuen Grimmaern, die ihn lieben.

Taktstock als Glücksbringer weitergegeben
Der Marathon des ewig jungen Orchesters geht weiter. Vater Reiner übergibt den Staffelstab an Sohn André. Und das im wahrsten Sinne, auch wenn der Stab eines Dirigenten zierlicher ist als der eines Läufers. Der Stabwechsel ist verbunden mit einem Geheimnis.
„André, ich habe es bisher noch nie gesagt“, holt Vater Rahmlow aus und kämpft mit den Tränen: „Unser unvergessener Fritz Schlager hatte mir noch zu seinen Lebzeiten diesen Taktstock geschenkt. Er hat mir stets Glück gebracht. Möge er auch dir Glück bringen.“
Haig Latchinian

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Leipziger Volkszeitung  vom 25. November 2023

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Jugendblasorchester: Stadtmusikdirektor und Publikumsliebling Reiner Rahmlow (64) verabschiedet sich zum Jahresende in den Ruhestand – nicht ohne vorher ein Geheimnis zu lüften.
Foto: LVZ