Stadtmusikdirektor Reiner Rahmlow
Wenn morgen die Welt unterginge, Reiner Rahmlow spielte weiter Musik. Er würde Blitz und Donner gar nicht mitbekommen. Im Arbeitszimmer seiner Kaderschmiede bebt schließlich jeden Tag die Erde. Und das nicht nur wegen der markerschütternden Paukenschläge. Vor allem, weil in der Etage unter ihm die Gewichtheber mit Hanteln wuchten.
Grimmas auch international gefeierter Stadtmusikdirektor ist den Tanz auf dem Vulkan gewöhnt. 1969 trat er dem Kreisfanfarenzug Grimma bei, der aus den Fanfarenzügen Großbardau, Naunhof sowie Grimma hervorging. Geleitet wurde der Zug vom unvergessenen Karl-Heinz „Peppi“ Friedrich, damaliger Pionierleiter an der Alfred-Frank-Oberschule. 1972 gründete Peppi das Jugendblasorchester Grimma und konnte dafür den legendären Berufsmusiker Fritz Schlager als Übungsleiter gewinnen. 1975 übernahm Fritz Schlager die Leitung. Rahmlow erlebte die Umstellung von Fanfaren auf Trompete, Tuba und Tenorhorn live mit. Fortan wurde nach Noten gespielt.
Als Fünfjähriger hatte Reiner Rahmlow mit der Mundharmonika seinen ersten Auftritt im Kindergarten. Er galt als Ausnahmetalent. In der Schulzeit spielte er in der Band „Beatrefs“. Das Kürzel Ref stand für die Namen der Mitglieder Rahmlow, Engelmann, Fischer. Rahmlow spielte im Fanfarenzug, trat 1973 bei den Weltfestspielen auf, machte seinen Musikschulabschluss und bekam in den Fächern Klavier sowie Trompete drei Jahre Privatunterricht bei Fritz Schlager. Nach seiner Rückkehr vom NVA-Wehrdienst 1983 steckte das Jugendblasorchester in der Krise. Rahmlow stieg als Übungsleiter ein und übernahm nach Fritz Schlagers Tod 1989 die Leitung. In politisch unsicheren Zeiten, als viele Orchester aufgeben mussten, startete Rahmlow neu durch: Er ergänzte die Blasinstrumente mit Keyboard, E- und Bassgitarre, E-Piano, Synthesizer, Pauken und Percussion. Ein ganz neuer Sound war geboren.
Reiner Rahmlow kreierte durch die besondere Besetzung des Jugendblasorchesters Grimma (Trompeten, Tuben, Flügel- und Tenorhörner unterstützt durch Schlagzeug, Kesselpauken, Percussion, Glockenspiel, Klavier, Keyboard sowie E- und Bassgitarre aber ohne Klarinette, Posaune und Saxophon) einen ganz eigenen Sound. Beobachter gehen davon aus, dass die spezielle Klangfarbe bundesweit, sehr wahrscheinlich auch europaweit einzigartig sein dürfte. So unterscheidet sich die Brassband im Happysound von Bigbands wie es sie zu Tausenden gibt. Was viele nicht wissen: Rahmlow, der fünf Instrumente beherrscht, komponiert auch eigene Stücke. Unter anderem schrieb er zur 800-Jahrfeier seiner Heimatstadt Grimma die Festfanfare. Außerdem komponierte er einen Kanon für Trompeten, den das Grimmaer Orchester fürs Herbstfest der Volksmusik im ZDF einspielte.
Rahmlow hat nicht nur Musik im Blut – er hat sie auch in den Genen: Sein Onkel, Dietmar Ränker, ist kein geringerer als der dienstälteste Schlagzeuger des Ostens. Der Bruder von Rahmlows Mutter Karin erlernte sein Handwerk ebenfalls im Grimmaer Fanfarenzug. Noch immer spielt er für Berluc (No Bomb), dessen Bandleader er auch ist. Rahmlows Frau, Cornelia, eine geborene Zerbs, ist eine Nachfahrin von Reformator Martin Luther. Rahmlow selbst war jahrelang Vorsitzender des Eva-Vereins (benannt nach der Grimmaer Brunnenfigur). In regelmäßigen Abständen wurden die beliebtesten Grimmaer Originale mit der „Goldenen Eva“, aber auch mit der „Pech-Eva“ bedacht. 2002 sollte die Miss Grimma gekürt werden. Zur Feier des Tages engagierte Rahmlow (was nicht unumstritten war) Pornostar und Busenwunder Dolly Buster, die ihr Kommen auch zusagte. Die Jahrhundertflut jedoch machte alle Pläne zunichte. Unvergesslich für Rahmlow: Das Treffen mit seinem großen Vorbild James Last, 2013, am Rande eines Konzerts in Dresden.
Rahmlow wollte ursprünglich Militärmusiker werden. Er fand das Zackig-Exakte geil. Noch während seiner Schulzeit hatte er sich um Aufnahme an der Akademie beworben. Teil eins der Prüfung, in der es ums Musikalische ging, bestand er mit Bravour: „Eine Niestüte war ich dagegen bei den politischen Fragen.“ Den Musiker aus Leidenschaft traf die Ablehnung mit voller Breitseite. Entsprechend niedergeschlagen reagierte er. Aus der Not heraus erlernte er den Beruf des Kraftfahrers. Später wechselte er als Vorfertiger zum Chemieanlagenbau, wo er bis zur Wende blieb. Dramatisch und sehr schmerzlich verliefen für ihn die beiden Fluten 2002 und 2013. Privat war er zweimal betroffen, mit seiner Orchesterschule einmal: „Mit Schülern schleppte ich wohlweislich Mischpult und Boxen aus dem Keller ins Obergeschoss. Ein Junge fragte: Herr Rahmlow, was machen Sie eigentlich, wenn das Wasser bis hier hoch steigt.“ Es sollte tatsächlich so hoch steigen. Ein weiterer Tiefpunkt im Leben von Reiner Rahmlow.
Die Nachwuchsgewinnung des Jugendblasorchesters ist professionell und gilt als Vorzeigeprojekt in Sachsen. Es ist einmalig, dass ein Musikverein eine Orchesterschule betreibt. Es war Reiner Rahmlow, der die Orchesterschule mit Fritz Schlager junior, seines Zeichens Solopauker des Gewandhausorchesters, gegründet hatte. 2006 bezog das Jugendblasorchester das komplett sanierte einstige „Russen-Casino“ am Schwanenteichpark. „Vom Seminarraum bis zum Konzertsaal – auf drei Etagen haben wir Bedingungen wie in der Hochschule“, outet sich Rahmlow als der glücklichste Mensch auf der Welt. Stadt und Kulturraum fördern das Projekt. Der Verein trägt die Betriebskosten. Rahmlow, der sich stets weiter bildete – von Musikpädagogik bis Dirigentenseminar – leitet zudem noch eine Trompeten-AG in einer Grundschule. Auf seine Initiative geht auch die Instrumentalausbildung für Musikförderklassen an der Oberschule zurück.
Wenn Reiner Rahmlow von Familie spricht, dann meint er sowohl die große Familie des Jugendblasorchesters als auch die etwas kleinere daheim. Dabei sind beide Familien gar nicht voneinander zu trennen: „Meine Frau Cornelia unterstützt uns als Betreuerin. Genauso wie Doreen, die Lebensgefährtin meines Sohnes. André ist unser Tontechniker. Na und Enkelin Alena spielt bei uns Trompete“, freut sich der stolze Opa. So lange es geht, hält er Kontakt auch zu ehemaligen Vereinsmitgliedern – bei den vielen Konzerten in Grimma, ob zu Ostern, am Muttertag oder in der Adventszeit, schließe man sich regelmäßig in die Arme. Rahmlow, der Vater der Truppe, ist beliebt. Kein Wunder: Er hat nicht nur ein Ohr für die Musik, sondern auch eines für die privaten Problemchen seiner Schützlinge.
Die Grimmaer lieben ihr Jugendblasorchester. Die Brasilianer (1996/2006), Südafrikaner (2001) und Russen (2019) verehren die Musiker von der Mulde sogar als Stars. „Wo immer wir auftraten – überall spielten wir vor ausverkauften Häusern. Kein Witz: Unsere Mädchen und Jungen mussten reihenweise Autogramme schreiben“, erinnert sich Rahmlow. Auslandstourneen führten das Ensemble auch nach Kanada (1994/2010) sowie nach Japan (1998). Die erste Fahrt, eine 24-stündige Ochsentour, ging 1991 noch mit dem Bus von Grimma ab – nach Spanien (1991). Doch das Jugendblasorchester zeigte sich auch als guter Gastgeber. 2018 fand das mittlerweile 9. Internationale Musikantentreffen in Grimma statt. 22 Orchester aus neun Ländern feierten einmal mehr ein Fest der Lebensfreude. Rahmlow behält selbst bei so einem dreitägigen Gewusel stets den Überblick. Auch der Letzte findet sein Schlafplätzchen, ob in Schule, Herberge oder privat bei Vereinsmitgliedern.
Der Orchesterleiter, der schon mit Helene Fischer, Heino und Boney M. auf der Showbühne stand, enterte irgendwann auch die politische. 20 Jahre saß er für die Freien Wähler im Stadtrat, davon eine Legislaturperiode auch als stellvertretender Bürgermeister. Zuletzt schaffte er als Kandidat der Unabhängigen Wählervereinigung den Wiedereinzug in den Kreistag, wo er bereits eine Wahlperiode dabei war. Sein Sachverstand gerade zur Kulturpolitik ist gefragt. Der ewige Parteilose winkt ab: „Mal halblang. Ich bin und bleibe Musiker. Politiker werde ich nie. Ich will nur nicht aus der zweiten Reihe schießen. Deshalb habe ich auch diesbezüglich Verantwortung übernommen.“ Für sein Engagement erhielt Rahmlow den Heimatpreis. Außerdem wurde sein Orchester 2014 als Verein des Jahres mit dem Unternehmerpreis der Ostdeutschen Sparkassen und der SUPERillu geehrt: „Und das, obwohl es in Sachsen solche Vereine wie Dynamo Dresden gibt …“, sagt Rahmlow, der bis vor kurzem selber noch in der Fußballmannschaft des Jugendblasorchesters mit kickte.
Text von Haig Latchinian
Galerie
Im Rahmen einer Fotodokumentation über Berufe wurde unser Orchesterleiter Stadtmusikdirektor Reiner Rahmlow vom Fotozentrum Leipzig einige Zeit während seiner Arbeit begleitet.
Fotos: Bodo Tiedemann